3. Die Landschaft der Erwachsenenbildung formt sich

Die Zürcher Zeitschrift «Volkshochschule» mit den gelegentlichen knappen Jahresberichten des VSV ist die einzige Quelle zu den Verbandsgeschäften der ersten Jahrzehnte.[1]Anhand verschiedener Publikationen der Verantwortlichen lässt sich jedoch zeigen, wie in der Nachkriegszeit verschiedene Institutionen der Erwachsenenbildung mit «heterogene[n] Trägerschaft[en]» [2]entstanden. Bereits 1944 war die «Migros Clubschule» als Sprachschule gegründet worden, im Jahr 1951 entstand der «Schweizerische Verband für Erwachsenenbildung» (SVEB), der gegenwärtig mit 700 Mitgliedern grösste Verband im Bereich der Erwachsenen- oder – heute primär – Weiterbildung. Zum ersten Präsidenten des SVEB wurde der Mit-Initiant des SVEB und Direktor der VHS Zürich, Hermann Weilenmann, gewählt. Er präsidierte ab 1955 auch den VSV und war an der Formierung der Erwachsenenbildungslobby beteiligt. Die Vernetzung unter den jungen Institutionen war ihm ein grosses Anliegen. [3]

Das Lernen im Erwachsenenalter sei zentral für das Fortkommen der Gesellschaft, war der Tenor. So publizierte zum Beispiel die «Schweizerische Lehrerinnenzeitung» 1951 in ihrem Heft ein Plädoyer für den Ausbau der Erwachsenenbildung. Die Anforderungen an die Menschen stiegen, das «Leben der Völker und auch des Einzelnen» sei «vielfältig und kompliziert» geworden. Die direkte Demokratie brauche «Bürger», die «kritisch und selbständig» denken könnten. [4]

Die VHS sahen sich alsPionierinnen der Erwachsenenbildung schlechthin, die an das bestehende Bildungssystem anschlossen und alle Landesteile mit Bildung versorgten. In der Romandie – in Lausanne seit 1951 – und in der Deutschschweiz waren bis Mitte der 1950er-Jahren in den meisten Regionen Volkshochschulen gegründet worden. Die Kursthemen deckten Bereiche der breiten Allgemeinbildung ab: von den Naturwissenschaften zur Religion und Philosophie hin zu den bildenden Künsten, Musik, Geschichte und Sozialwissenschaften. [5]Die Zahl der Verbandsmitglieder stieg in den 1950er- und 1960er-Jahren stark an. 1957 wurden 100 Mitglieder gezählt, 1961 bereits 124, 1964 schliesslich 149. Weil sich in Zürich oder Bern kantonale Verbände bildeten, sank die Zahl der Mitgliedschaften später wieder. Das Tessin schloss 1963 mit den kantonal finanzierten und bis heute bestehenden «Corsi per Adulti» die Lücke in der landesweiten VHS-Abdeckung. [6]

Die Auswirkungen des Wirtschafswunders der 1950er-Jahre blieben jedoch nicht unbemerkt. Niemand sei mehr «von den Segnungen der Kulturgüter» ausgeschlossen. Der Mensch verfüge über alle Privilegien. Dies führe dazu, dass «jener Bildungshunger, der die geistig hellen und wachen Menschen des 18. und 19. Jahrhunderts beseelte, jene glühende Begeisterung für die Bildung an sich» nicht mehr vorhanden sei. Die Jugend der Zeit interessiere sich kaum mehr für Kulturgüter, lautete die Klage. [7]Die 1960er-Jahren schliesslich warfen neue Fragen auf: Wie kann die Erwachsenenbildung professionalisiert werden? Wie systematisch soll sie sein? Wo positionieren sich die VHS im dichter werdenden Bildungsangebot für Erwachsene? [8]

Eine der Antworten war der 500-seitige Bericht der eidgenössischen Expertenkommission für Fragen einer schweizerischen Kulturpolitik aus dem Jahr 1975. Unter der Leitung des Neuenburger alt-Staatsrats Gaston Clottu definierte die Kommission im Auftrag des Vorstehers des Eidgenössischen Departements des Innern den Kulturbegriff. Dieser Begriff umfasste die Medien, aber auch die Bildung allgemein und die Erwachsenenbildung im Besonderen. In ihrem Bericht wiederholte die Kommission das, was Gründer der Volkshochschulen bereits seit den 1920er-Jahren forderten: Weite Schichten sollen Zugang zu Allgemeinbildung haben, um «die Techniken des kulturellen Ausdrucks zu erwerben und [ihre] Empfindungskraft zu entfalten» [9].Eine erweiterte Allgemeinbildung sei für das Gleichgewicht des einzelnen Menschen nötig, «denn sie stärkt seine Fähigkeit, sich mit neuen Situationen auseinanderzusetzen und die grössere Freiheit nutzbringend anzuwenden» [10]. Schule und Universität «bereiten das Individuum auf die bestehende Gesellschaft vor; die Erwachsenenbildung hilft ihnen, sie zu verändern». [11]Die Forderungen des Expertenberichts wurden zwar gehört, wurden in Zeiten der Rezession kaum umgesetzt und hatten auch für den VSV keine unmittelbaren Auswirkungen. [12]

Faksimile unten

Die VHS habe eine zentrale Funktion in der Demokratie. So die Hauptaussage eines Artikels von Hermann Weilenmann in der Volkszeitung 1948. Quelle: Staatsarchiv Zürich

VSV, Verband der Schweizerischen Volkshochschulen

Fussnoten

[1] Der erste separat gedruckte Jahresbericht VSV stammt aus dem Jahr 1965/66. Die Zeitschrift «Volkshochschule»ging 1964 an den VSV über und wurde 1977 eingestellt (heute im Staatsarchiv Zürich). Anfang der 1980er-Jahre (1982) erschien das «Bulletin VHS information UP», zwischen Oktober 1995 und Juni 2003 die «Gazzetta»(Archiv VSV).
[2] Furrer 2005.
[3] Weilenmann 1957, S. 183 (Adresse Geschäftsstelle), siehe gelegentliche Jahresberichte SVEB in «Volkshochschule», z.B. 1957/4. Das Buch Schweizerische Vereinigung für Erwachsenenbildung 1955 ist eine Bestandesaufnahme Mitte der 1950er-Jahre und zeigt das Selbstverständnis der verschiedenen Institutionen. Die VHS werden durch einen Artikel von Karl Fehr (ab 1965 Präsident VSV) dargestellt. Unter anderem enthält die Schrift einen «Versuch einer soziologischen Bestimmungstabelle zur Erwachsenenbildung».

[4] Nationale Schweizerische Unesco-Kommission, in: Schweizerische Lehrerinnenzeitung, 1951, S. 329.
[5] Vgl. Auflistung in Weilenmann 1957, S. 35–180.
[6] Dominicé/Finger 1990, S. 36f.
[7] Weilenmann 1957, S. 11.
[8] Montanari Häusler 2011, S. 100–103, Jahresberichte VSV 1965/66 bis 1968/69.
[9] Clottu 1975, S. 401.
[10] Clottu 1975, S. 13.
[11] Clottu 1975, S. 278.
[12] Vgl. auch Keller 2010, Abs. 1.