5. Krisen und Konflikte

Die Geschichte des VSV ist nicht krisenfrei. Seit 1980 diskutierten die Mitglieder etwa im Zehnjahresrhythmus die Existenzberechtigung ihres Verbands. Die Auslöser waren unterschiedlich, aber aus jeder der stürmischen Phasen ging der VSV gestärkt hervor.

Eine «tiefgreifende Strukturreform» stehe an, sagte der Präsident Roland Ris an der Mitgliederversammlung im November 1981 auf Schloss Lenzburg. Denn die Mitglieder erwarteten vom Verband «mehr». Fazit der Diskussion: Ein nebenamtlicher Sekretär genügt den Ansprüchen nicht mehr. In fünf Schweizer Zeitungen wurde die Stelle ausgeschrieben und schliesslich eine Sekretärin für die Verwaltung des VSV eingestellt. [1] Danach waren administrative Probleme gelöst, doch die Spannungen blieben bestehen. Die VHS würden gerne ihre Verschiedenheiten betonen, obwohl sie viele Gemeinsamkeiten hätten, war an der Mitgliederversammlung 1985 zu hören. [2]

Nach jahrzehntelangem Wachstum der Anzahl Mitglieder, Kurse, Teilnehmenden hatten die VHS 1992 mit über 2,1 Millionen Personenstunden ihren Zenit erreicht. [3] Erstmals sahen sich die Veranstalter mit rückläufigen Zahlen konfrontiert. Was war zu tun? Und: Wozu braucht es einen Dachverband, wenn er vor dem Rückgang nicht schützen kann? VSV-Präsident Urs Hochstrasser formulierte ein «Argumentarium»,[4] das auf seinem vor seiner Wahl verfassten «Grobkonzept für das Programm des VSV ab 1993» basierte:

  1. Der Verband bietet Dienstleistungen in Form von Weiterbildung oder EDV-Unterstützung bei der Kursadministration an. Ebenso stellt er Logos, ein Führungshandbuch und die «Gazzetta» zur Verfügung und kümmert sich um die Zertifikatsprüfungen und die Abgeltung von Urheberrechten.
  2. Der VSV engagiert sich bildungspolitisch, sichert ein gemeinsames Verständnis der VHS und vertritt die VHS in den Nachbarstaaten, bei den Kantonalen Erziehungsdirektoren, bei den anderen Verbänden. Er ist auch für die PR der VHS verantwortlich.

Die Stabilisierung des VSV gelang, wenn auch die Anzahl Personenstunden nicht zunahm. Zeitgleich hatten europäische Diskussionen zum Thema Qualitätssicherung und Ausbildung von Expertinnen und Experten für Sprachzertifikate begonnen. Die an einer UNESCO-Weltkonferenz verfasste «Hamburger Deklaration zum Lernen im Erwachsenenalter» bezeichnete die Erwachsenenbildung als «Schlüssel zum 21. Jahrhundert». [5] Die «Lernende Gesellschaft» war in aller Munde. [6] Die schweizerischen VHS sahen darin ihre Chance. Hochstrassers Nachfolger Pierre Cevey fasste den kulturellen Wandel 1997 wie folgt zusammen:

«Die Zeiten, welche die meisten von uns noch erlebt haben, sind vorbei, da man in einer ersten Phase Kenntnisse erwarb, die für einen bestimmten Beruf gebraucht wurden, den man sein ganzes Leben lang ausüben konnte.» [7]

Die Globalisierung erzeuge Gewinner und Verlierer, man müsse am Ball bleiben. Länderübergreifende Bildungsberichte wie die erste PISA-Studie, die der Schweiz nicht nur gute Noten erteilten, schreckten auf. «Der Weg zu einer lernenden Gesellschaft ist steinig», ist im Jahresbericht 2000/01 zu lesen. [8] Das Fernziel liest sich aus diesem Zitat: ein nationales Weiterbildungsgesetz. [9]

Die vielen Initiativen des VSV hatten ihren Preis. Das Geschäftsjahr 2002/03 schloss mit einem Verlust von beinahe 130 000 Franken, trotz Bundessubventionen von 300 000 Franken und Mitgliederbeiträgen. Die Verbandszeitschrift «Gazzetta» wurde eingestellt. Die Verbandsleitung war dennoch der Ansicht: «Wer nicht voranschreitet, geht zurück.» [10] Es gebe berechtigten Grund für die Existenz des VSV, war der neue Präsident, der Waadtländer Bildungssekretär Fabien Loi Zedda, überzeugt. Er sei sicher, «dass der Verband überleben und gestärkt aus der Krise hervorgehen wird». [11] Die Vorworte der Jahresberichte wurden nun von Bundesräten verfasst, die das Engagement der VHS lobten. Bildung sei ein Entwicklungsprozess – die VHS leisteten hierzu einen wertvollen Beitrag. Fördergelder insbesondere in den Bereichen der Grundkompetenzen und funktionalem Analphabetismus (Illettrismus) wurden gesprochen. [12]

Dies führte 2012 erneut zur Existenzfrage: Wozu der VSV? Ein beträchtliches finanzielles Defizit und Kritik an ungenügenden Leistungen bedrohten den Fortbestand des Verbands. Der VSV hatte zwar noch 80 Mitglieder – in Spitzenzeiten und vor Fusionen waren es in den 1980er-Jahren um die 90 gewesen. Die Teilnehmerzahlen jedoch sanken. Während 1992 noch über 2 Millionen Personenstunden registriert wurden, waren es 2013 keine 1,3 Millionen mehr. Die personalintensive Geschäftsstelle und zahlreiche nationale und europäische Projekte vergrösserten das Loch in der Kasse, die sich nach dem Wegfall der Bundesmittel nicht mehr füllte. So konnte es nicht weitergehen. [13] Anlässlich einer ausserordentlichen Mitgliederversammlung im September 2013 definierten Mitglieder die Ziele des VSV und entschieden sich schliesslich für ein Verbandsmodell mit Grund- und wenigen Zusatzaufgaben. Man reduzierte die Aktivitäten des VSV und schränkte sie auf die Schweiz ein. Dazu gehörten nun: [14]

  1. Interessenvertretung in den schweizerischen Organisationen, zum Beispiel dem SVEB, bei den Behörden und der Öffentlichkeit
  2. Information, zum Beispiel über Weiterbildungspolitik
  3. Beziehungspflege unter den Mitgliedern
  4. Bildungsidee VHS: Austausch und Bekanntmachung
  5. Beratung von Mitgliedern bei Programmgestaltung und Betriebsführung

Qualitätsentwicklung und Weiterbildung der Kursleitenden wurden als Zusatzleistungen des VSV deklariert, die er mit Hilfe nun aufgabengebundener Unterstützungsbeiträge erbringt.

Die Folge dieser Neuorientierung: Die Geschäftsstelle in Bern mit rund 600 Stellenprozenten wurde aufgelöst, administrative Aufgaben minimiert und von einzelnen VHS und Freiwilligen übernommen. Die Geschäftsstelle wurde in die VHS Zürich integriert. Heute ist eine Teilzeit-Mitarbeiterin für die Koordination der Weiterbildung der VHS-Dozentinnen und -Dozenten zuständig. [15] Doch trotz Krise in der Dachorganisation entwickelten sich die mittleren und grösseren VHS gut. Die jährlichen Teilnehmerstunden stiegen bis 2016 wieder auf 1,8 Millionen.

Links

Von der wissenschaftsnahen Vorlesung bis zum Tanzkurs: Zu Beginn der 1990er-Jahre betonte der VSV das vielfältige Angebot der VHS. Quelle: Jahresbericht 1990/91

Unten

Wo befinden sich die VHS in der Schweiz und wer besucht sie? Statistische Daten des Jahres 1996/97 verzeichneten einen Rückgang bei Kursen, Kursorten, Kursstunden, Belegungen und Personenstunden. Quelle: Jahresbericht 1996/97, S. 2

Fussnoten

[1] Jahresbericht VSV 1981/82, S. 1 f. und S. 4.
[2] Jahresbericht VSV 1984/85, S. 5–8. (Der VSV-Präsident Robert Schneebeli hält in diesem Jahresbericht eine kritische Rückschau auf die Verbandsgeschichte.)
[3] Eine Bestandesaufnahme der VHS in der Schweiz machte 1991 der VSV-Präsident und Direktor der Zürcher VHS in Schneebeli/VSV 1991 (Archiv VSV, Schachtel 6).
[4] Jahresbericht VSV 1994/95, S. 6–8.
[5] UNESCO-Institut für Pädagogik, S. 1.
[6] Sowohl der Diskurs zum lebenslangen Lernen als auch das Argument, dass die VHS deswegen Zukunft hätten, wurden seit den 1960er-Jahren gepflegt, siehe Jahresberichte oder Montanari Häusler 2011, S. 40.
[7] Jahresbericht VSV 1996/97, S. 11.
[8] Jahresbericht VSV 2000/01, S. 4
[9] Jahresbericht VSV 2002/03, S. 6; für die Entwicklung siehe Jahresberichte 1997/98–2001/02. Im Verlauf der 1990er-Jahre waren bereits erste kantonale Erwachsenenbildungsgesetze / Weiterbildungsgesetze in Kraft getreten, siehe auch Montanari Häusler, S. 42–48.

[10] Jahresbericht VSV 2003/04, S. 10.
[11] Jahresbericht VSV 2003/04, S. 5.
[12] Jahresbericht VSV 2010/11, Vorwort von Bundesrat Didier Burkhalter, S. 1. Hinweise zu Unterstützung siehe Jahresrechnungen.
[13] Jahresbericht VSV 2011/12, Jahresbericht Fabien Loi Zedda.
[14] Privatarchiv Christoph Reichenau, verschiedene Dokumente aus dem Jahr 2013; Gespräch mit Christoph Reichenau zu Gegenwart und Zukunft der VHS vom 2. Mai 2018.
[15] Gespräch mit Christoph Reichenau zu Gegenwart und Zukunft der VHS vom 2. Mai 2018.