Digitalisierung und Grundkompetenzen
(He) Am Freitag, 3. November 2017, wurde das Thema „Digitalisierung und Grundkompetenzen“ an einer Fachtagung in Bern diskutiert, zu dem der Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben und das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI eingeladen hatten. Die z.T. hochkarätigen Referentinnen und Referenten vermochten über 150 Fachpersonen aus der ganzen Schweiz und der EU zu begeistern.
Anhand neuster Forschungsergebnisse präsentierte die Soziologin Périne Brotcorne von der Universität Louvain, Belgien, dass der ungleiche Zugang zur Informationstechnologie und die Möglichkeit zu ihrer sinnvollen Nutzung keine individuelle Sache ist, sondern Folge sozialer Ungleichheit. Die Kompetenz zum Umgang mit ICT ist zudem einer komplexen Dynamik unterworfen und muss täglich weiterentwickelt werden. Dazu braucht es zunächst einen Zugang zu einem funktionierenden Computer mit den entsprechend sinnvollen Programmen oder Apps, danach das Wissen, wie man navigiert, die Inhalte wertet und selber weiterverwendet. Man sollte des Weiteren soziale Fähigkeiten haben, um sich interaktiv mit andern auszutauschen und abschätzen zu können, ob ein Inhalt wahr oder nur Fake ist. Weiter braucht es eigene Kreativität, um Inhalte selber zu gestalten, Fotos zu bearbeiten, einzufügen, Filme zu erstellen, zu publizieren – oder im Gegenteil zu entscheiden, etwas nicht auf Internet zu stellen, da es dem Datenschutz unterliegt oder weil man auch seine Persönlichkeit nicht allen preisgeben will. Solche Kompetenzen sind nach Périne Brotcorne bei gut gebildeten Personen besser ausgebildet als bei wenig gebildeten Menschen. Um in unserer Gesellschaft, unserem demokratischen Staatswesen jedoch nicht ausgeschlossen zu werden, braucht es diese Kompetenzen. Wir haben also grosses Interesse und auch die Verpflichtung, allen Leuten die Teilhabe zu ermöglichen.
Referent Martin Ebner von der technischen Universität Graz hat primär mit Studierenden zu tun, die sich im Umgang mit der Informatiktechnologie nicht schwer tun – und er kommunizierte den Tagungsteilnehmenden unmittelbar vor Beginn seiner Ausführungen einen Link, mit dem sie das Referat sofort elektronisch beurteilen konnten. Bis zum Ende des Referates waren es fünf Personen, die diese Möglichkeit nutzten: Die digitale Kompetenz bei den Tagungseilnehmenden ist noch nicht so ungezwungen wie bei Studierenden technischer Richtung. Doch auch für Martin Ebner ist klar, dass nicht die technische Expertise, das virtuose Bedienen der elektronischen Medien den Fokus der Ausbildung in Digitalisierungsfächern bilden darf, sondern es vielmehr die Kinder, SchülerInnen, Lernenden, Studenten und Erwachsenen, selber sind, deren individuelle Bedürfnisse wichtiger sind als reines Technikwissen. Allerdings müssen die Unterrichtenden selber diese ICT-Kompetenzen haben, erarbeiten und immer auch weiterentwickeln, um den Lernenden ins Zentrum stellen zu können. Die Kinder z.B. lernen am besten mit Videos. Wer als Dozierender in Zukunft keine Geisterstunden halten will, der muss sich mit diesen Lehrformen auseinander setzen und ihren sinnvollen Einsatz stets neu erarbeiten.
An einem Workshop am Nachmittag stellten VSV-Präsident Christoph Reichenau und Annick Rossier von der Association Lire et Ecrire das Projekt „Leap“ vor. In diesem Workshop zeigte sich, dass die „Grundkompetenzen“ sehr unterschiedlich definiert werden, je nach Gegend, aus der man kommt, oder Zielpublikum, auf das fokussiert wird. So wurde von einer Teilnehmerin aus Deutschland unter anderem von Gesundheitsgrundbildung, Finanz-Grundbildung oder Digitaler Grundbildung gesprochen, während andere unter Grundbildung das verstanden, was Schülerinnen und Schüler nach Verlassen der 9. Klasse in den Bereichen Lesen, Schreiben, Rechnen und Informationstechnologie können sollten. Leap als Lernplattform für Grundbildung weiterzuentwickeln wurde von den Teilnehmenden mehrheitlich als sinnvoll erachtet.
Vom Verband der Volkshochschulen aus weise ich hier schon auf einen Online-Kurs der VHS Graz hin, der ab 4. April 2018 zum zweiten Mal durchgeführt wird. Der Kurs hat das Format eines „Moodle“ (Massive open online course), in dem ErwachsenenbildnerInnen angeleitet werden, wie sie sich im Meer der digitalen Welt das Know-how für die eigene Unterrichtsgestaltung erwerben können. Der Kurs dauert 6 Wochen und kann mit unterschiedlich intensivem Aufwand betrieben werden. Schauen Sie rein, wenn Sie sich im digitalen Bereich nicht schon wie ein Fisch im Wasser fühlen.